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Das neue Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof

Die vom Bundestag verabschiedete Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens gibt dem Bundesgerichtshof neue Möglichkeiten und zielt darauf ab, juristische Streitigkeiten mit sogenannten Masseverfahren (hohe Anzahl an Klägern) deutlich zu beschleunigen. Damit sollen mehrere Millionen Euro Zeitaufwand und Steuergelder eingespart werden.

Am 26. September 2024 hat der Bundestag den Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof in der vom Rechtsausschuss geänderten Fassung verabschiedet. Ziel des Gesetzes ist es, die Belastung der Zivilgerichte durch Masseverfahren zu reduzieren, indem der Bundesgerichtshof einzelne Rechtsfragen dieser Verfahren zügig entscheidet. Der Bundesgerichtshof kann ein Revisionsverfahren, das aus einem Masseverfahrenskomplex stammt, zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen und dieses auch bei Rücknahme oder anderweitiger Erledigung der Revision abschließen. Die Leitentscheidung bietet keine formale Bindungswirkung, sondern dient als Orientierung für andere Verfahren. Laut Bundesregierung soll das Verfahren Bürger und Wirtschaft um mehrere Millionen Euro und erheblichen Zeitaufwand entlasten. Es wird mit etwa 25 Leitentscheidungen jährlich gerechnet, die zur zügigen Erledigung von schätzungsweise je 2000 erstinstanzlichen Verfahren führen könnten.

Regelungsgehalt der Gesetzesänderung

Das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof beinhaltet drei maßgebliche Änderungen der Zivilprozessordnung (ZPO):

§ 552b ZPO n.F.: Durch diese Norm wird das Leit-entscheidungsverfahren eingeführt. Danach kann das Revisionsgericht das anhängige Revisionsverfahren nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen, wenn die Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist.

§ 565 ZPO n.F.: Diese Norm regelt die Leitentscheidung selbst. Das Revisionsgericht trifft durch Beschluss eine Leitentscheidung, wenn die zum Leit-entscheidungsverfahren bestimmte Revision endet, ohne dass ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil ergeht. Der Beschluss enthält die Feststellung, dass die Revision beendet ist, sowie die zu begründende Leitentscheidung zu den benannten Rechtsfragen.

§ 148 Abs. 4 ZPO n.F.: Diese Norm ermöglicht es dem Gericht, einen Rechtsstreit auszusetzen, um ein entscheidungserhebliches Leitentscheidungsverfahren abzuwarten. Die Parteien sind vorher anzuhören. Eine Aussetzung hat nur zu unterbleiben, wenn eine Partei widerspricht und gewichtige Gründe hierfür glaubhaft macht.

Bewertung

Das mit der Gesetzesänderung eingeführte Leitentscheidungsverfahren wird nach jetziger Einschätzung ein Tropfen auf den heißen Stein der (u.a.) masseverfahrensbedingten Überlastung der Justiz sein. Bedenken gegen die verabschiedete Gesetzesänderung sind offenbar ungehört verhallt: So hat die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) in ihrer Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses am 13. Dezember 2023 zutreffend darauf hingewiesen, dass die Zahlen, die der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur tatsächlichen Wirkung beinhaltete, aus der Luft gegriffen sind; verlässliche Quellen zu Anzahl und Umfang der Masseverfahren und der daraus folgenden Belastung der Judikative gibt es nicht. Auch der Deutsche Richterbund wies darauf hin, dass die beabsichtigte Neuregelung zu kurz greift und der Bundesgerichtshof die Gerichte insgesamt eher be- als entlasten wird.

Die Anknüpfung des neuen Leitentscheidungsverfahrens an ein bereits anhängiges Revisionsverfahren torpediert die erhoffte Entlastungswirkung für die Instanzgerichte. Im Fall des paradigmatisch heranzuziehenden Dieselskandals beendete der Bundesgerichtshof (BGH) erstmals im Mai 2020 Revisionsverfahren mit Urteil. Bereits im Herbst 2015 war der Dieselskandal bekannt geworden und die dazugehörige Klagewelle beschäftigte die Instanzgerichte demnach knapp fünf Jahre bis zur ersten höchstrichterlichen Entscheidung. Es ist zudem nicht davon auszugehen, dass eine Leitentscheidung, der die Auswahl eines dafür geeigneten Verfahrens vorausgeht (vgl. § 552b ZPO n.F.), durch den BGH wesentlich schneller gefällt wird.

Fraglich ist auch, ob sich das Leitentscheidungsverfahren in der Praxis spürbar von herkömmlichen Revisionsverfahren unterscheiden wird. Denn ist ein anhängiges Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren erwählt worden, ist den Parteien ohnehin klar, dass eine Entscheidung – mit oder ohne ihr Zutun, vgl. § 565 Abs. 1 ZPO n.F. – erfolgen wird. Es ist deswegen nicht zu erwarten, dass die Parteien sich gerade aus diesem Verfahren zurückziehen.

Im Übrigen haben Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (auch wenn sie nicht die „offizielle“ Bezeichnung Leitentscheidung tragen) selbstverständlich diesen Charakter. Die Instanzgerichte orientieren sich an deren normativer Wirkung. Es ist zu erwarten, dass auch dieses neue Instrument sein Ziel, auch gegen den Willen einer/der Partei/en Leitentscheidungen zu ermöglichen, – ebenso wenig erreichen wird, wie die Schärfung des Revisionsrechts zum 1. Januar 2014. Wie sich aber gezeigt hat, weiß sich der Bundesgerichtshof auch anders zu helfen, indem er z.B. den für kaufrechtlich gelagerte Fälle weiterhin leitenden Hinweisbeschluss vom 8. Januar 2019 erlassen hat.

Vor diesem Hintergrund hätte der Gesetzgeber Alternativen in Erwägung ziehen sollen. So hätte die erhoffte Wirkung besser durch die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens bezüglich geeigneter und verallgemeinerungsfähiger Rechtsfragen erzielt werden können. Denn ein solches zöge die höchstrichterliche Klärung spürbar vor und führte zu einer zeitnahen Entlastung der gesamten Justiz. Jedenfalls hätte das eingeführte Leitentscheidungsverfahren zur Erreichung der Beschleunigung der Masseverfahren durch die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Sprungrevision flankiert werden müssen.

Mit der verabschiedeten Einführung des Leitentscheidungsverfahrens ist der Gesetzgeber ein schlüssiges Gesamtkonzept, wie der – durch den zunehmenden Einsatz Künstlicher Intelligenz voraussichtlich verstärkt virulenten – Herausforderung der Masseverfahren für die Justiz begegnet werden kann, schuldig geblieben. Es wird Jahre dauern, bis der BGH die erste Leitentscheidung trifft, die praktischen Unterschiede zum status quo ante dürften überschaubar sein.

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