Mandanteninformation
Update: Die neue EU-Produktsicherheitsverordnung und Produkthaftungsrichtlinie
Am 13. Dezember 2024 wird die neue Produktsicherheitsverordnung in Kraft treten. Am 18. November 2024 wurde die neue Produkthaftungsrichtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Die Mitgliedstaaten müssen die Produkthaftungsrichtlinie bis zum 9. Dezember 2026 in nationales Recht umsetzen.
Der europäische Rechtsrahmen für Produktsicherheit und Produkthaftung wird mit der neuen Produktsicherheitsverordnung und der neuen Produkthaftungsrichtlinie grundlegend erneuert. Die neue Produktsicherheitsverordnung löst die Richtlinie 2001/95/EG ab. Die Produkthaftungsrichtlinie wird die seit fast vierzig Jahren geltende Richtlinie 85/374/EWG ersetzen. Erklärtes Ziel der Novellierungen seitens des europäischen Gesetzgebers ist die Verbesserung des Verbraucherschutzniveaus. Hierzu werden die Pflichten von Wirtschaftsakteuren mit Blick auf die Produktsicherheit und Ansprüche des Verbrauchers bei gefährlichen bzw. fehlerhaften Produkten erheblich erweitert. Eine Vorbereitung auf die bevorstehenden Verschärfungen ist daher für betroffene Wirtschaftsakteure essenziell.
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Die Produktsicherheitsverordnung (EU) 2023/988
Der europäische Gesetzgeber hat mit der Verabschiedung der Produktsicherheitsverordnung („General Product Safety Regulation“; im Folgenden GPSR) ein vollständig neues Regelungswerk geschaffen. Durch die Entscheidung für eine Verordnung anstelle des zuvor genutzten Rechtsinstruments der Richtlinie soll eine einheitliche Anwendung von Produktsicherheitsvorschriften in der gesamten Union sichergestellt werden. Die GPSR gilt unmittelbar in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ohne dass es einer innerstaatlichen Umsetzung bedürfte. Im Zentrum der Gesetzesnovellierung steht die Einführung von Ansprüchen des Verbrauchers gegen den Rückrufverantwortlichen auf Abhilfemaßnahmen im Falle eines Produktrückrufs (Art. 37 GPSR).
Anforderungen an die Sicherheit eines Produkts
Die GPSR erweitert die für die Bewertung der Sicherheit von Produkten relevanten Kriterien (zuvor Art. 2 lit. b der Richtlinie 2001/95/EG). In die Bewertung der Sicherheit eines Produkts ist nunmehr ergänzend einzustellen, ob das Erscheinungsbild des Produkts Verbraucher (insbesondere Kinder) dazu verleiten kann, das Produkt in einer anderen Weise als zu deren bestimmungsgemäßen Verwendung einzusetzen. Darüber hinaus finden Cybersicherheitsmerkmale Eingang in die Produktsicherheitsbewertung, sofern diese nach Art des Produkts erforderlich sind, um das Produkt vor äußeren Einflüssen zu schützen.1
Hierdurch soll der Verbraucher vor Gefahren für seine Gesundheit und Sicherheit durch mit neuen Technologien ausgestattete Produkte und durch Eingriffe von außen auf diese (etwa durch Hackerangriffe) geschützt werden.2
Der Unionsgesetzgeber erkennt ferner die zunehmende Produktvernetzung als potenzielles Sicherheitsrisiko an. Einwirkungen eines Produkts auf andere Produkte, Verbindungen und Wechselwirkungen eines Produkts mit anderen Gegenständen, dürfen die Sicherheit eines Produkts nicht beeinträchtigen.3
Wirtschaftsakteure werden vor diesem Hintergrund ein besonderes Augenmerk ihrer Product-Compliance auf den Bereich außerhalb der eigenen Unternehmenssphäre, also auf das Zusammenwirken ihres Produkts mit externen Faktoren und Einflüssen, legen müssen.
Betroffene Wirtschaftsakteure
Die GPSR führt zudem zu einer Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs des europäischen Produktsicherheitsrechts um Fulfilment-Dienstleister und Anbieter von Online-Marktplätzen. Anbietern von Online-Marktplätzen werden umfangreiche Pflichten auferlegt.4 Insbesondere haben Anbieter von Online-Marktplätzen eine zentrale Kontaktstelle zum Zwecke der Kommunikation mit Marktüberwachungsbehörden sowie Verbrauchern sowie einen internen Product-Compliance-Prozess einzurichten.
Meldepflichten bei Unfällen
Mehrbelastungen sowohl für Marktüberwachungsbehörden als auch für die betroffenen Wirtschaftsakteure wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Regelung der GPSR zu Meldepflichten bei Unfällen, die im Zusammenhang mit der Sicherheit von Produkten auftreten, verursachen.5
Der Hersteller muss eine unverzügliche Meldung erstatten über einen Unfall, der durch ein in Verkehr gebrachtes oder auf dem Markt bereitgestelltes Produkt verursacht wurde. Die Vorschrift enthält eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen, die in der Rechtsanwendung erhebliche Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Reichweite der Meldepflichten nach sich ziehen.
Es fehlt eine Definition für die in Art. 20 GSPR verwendeten Begriffe „Unfall“ und „unverzüglich“. Keine Auskunft gibt die Norm zudem über Art und Gewicht des erforderlichen Kausalbeitrags zu dem Unfall. Das konkrete Bezugssubjekt der Kenntnis des Unfalls bleibt ebenfalls offen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die mit der Unbestimmtheit der Begrifflichkeiten einhergehende erhebliche Rechtsunsicherheit in der Praxis auswirkt. Nicht auszuschließen ist, dass Marktüberwachungsbehörden im Falle einer sehr hohen Anzahl an Meldungen an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gebracht und damit Kapazitäten zur effektiven Aufgabenwahrnehmung gemindert werden. Damit würde aber letztlich das Ziel der Verbesserung des Verbraucherschutzniveaus konterkariert.
Das Schnellwarninformationssystem RAPEX soll unter Umbenennung zu Safety Gate weiter gestärkt werden.
Das Safety Gate besteht fortan aus drei Bausteinen: das Schnellwarnsystem für gefährliche (Non-Food-)Produkte (Safety-Gate), ein Webportal zur Information der Öffentlichkeit (Safety-Gate-Portal) sowie ein Webportal, über das Unternehmen ihren durch die Verordnung auferlegten umfangreichen Meldepflichten8 nachkommen können (Safety-Business-Gateway).
Im Webportal zur Information der Öffentlichkeit (Safety-Gate-Portal) wird ein „Melde-Tool“ eingerichtet, über das Verbrauchern die Möglichkeit gegeben werden soll, die EU-Kommission über Produkte zu informieren, die ein Risiko für die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher darstellen.7
Recht auf Abhilfe
Die weitreichendste Neuerung der GPSR liegt in der Regelung zu Abhilfemaßnahmen im Falle eines Produktsicherheitsrückrufs nach Art. 37 GPSR. Der für den Rückruf verantwortliche Wirtschaftsakteur hat dem Verbraucher wirksame, kostenfreie und zeitnahe Abhilfe und dabei die Wahl zwischen mindestens zwei Abhilfemaßnahmen anzubieten. Der europäische Gesetzgeber erhofft sich durch das Angebot mehrerer Abhilfemaßnahmen an den Verbraucher eine Steigerung der Wirksamkeit eines Rückrufs.
Abhilfemaßnahmen
Zu den dem Verbraucher anzubietenden Abhilfemaßnahmen zählen die Reparatur des zurückgerufenen Produkts, der Ersatz des zurückgerufenen Produkts durch ein sicheres Produkt desselben Typs mit mindestens demselben Wert und derselben Qualität oder eine angemessene Erstattung des Wertes des zurückgerufenen Produkts (in Höhe mindestens des vom Verbraucher gezahlten Preises). Der Wirtschaftsakteur kann sich auf das Angebot einer Abhilfemaßnahme beschränken, wenn andere Abhilfemaßnahmen unmöglich oder unverhältnismäßig wären.
Die Abhilfemaßnahme des Ersatzes des zurückgerufenen Produkts besitzt Ähnlichkeiten mit der kaufrechtlichen Nachlieferung. Allerdings ist der Ersatzanspruch begrenzt auf ein sicheres Produkt mit demselben Wert und derselben Qualität. Das Produkt ist daher stets nach Verstreichen von Zeit in seinem gebrauchten Zustand im Zeitpunkt der Abhilfe zu ersetzen. Anders als im Recht der kaufrechtlichen Nachlieferung wird auch beim Kauf einer neuen Sache bei Inanspruchnahme auf produktsicherheitsrechtliche Abhilfe zu einem späteren Zeitpunkt nicht Ersatz in Form einer neuen Sache anzubieten sein.
Die Abhilfemaßnahme der angemessenen Erstattung des Wertes des zurückgerufenen Produkts (in Höhe mindestens des vom Verbraucher gezahlten Preises) erlaubt dem Verbraucher eine Befreiung von der durch den Erwerb des Produkts erlittenen Geldeinbuße und ist somit mit dem Rücktrittsrecht vergleichbar. Nicht vorgesehen in der GPSR ist allerdings eine Anrechnung eines Nutzungsersatzes zu Lasten des Verbrauchers. Auch zu einem Erfordernis der Rückgabe des zurückgerufenen Produkts bezieht die GSPR keine explizite Stellung, sondern hält lediglich fest, dass der Verbraucher diesbezügliche Kosten nicht zu tragen hat. Der Bezug zu dem vom Verbraucher gezahlten Preis kann in einer mehrstufigen Lieferkette dazu führen, dass der rückrufverantwortliche, ein gefährliches Einzelbauteil herstellende Wirtschaftsakteur eine deutlich höhere Summe an den Verbraucher zu erstatten hat, als er selbst mit dem Verkauf seines Teilprodukts erzielen konnte. Dies kann erhebliche wirtschaftliche Belastungen bis hin zu Existenzrisiken zur Folge haben.
Verhältnis zum nationalen Kauf- und Deliktsrecht
Die Nähe der dargestellten Abhilfemaßnahmen zu sachmängelgewährleistungsrechtlichen Ansprüchen ist unverkennbar. Die Abhilfemaßnahmen des GPSR treten neben das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht.8
Alleinstellungsmerkmal der Abhilfemaßnahmen ist, dass sie keiner zeitlichen Beschränkung für die Inanspruchnahme und damit - anders als sachmängelgewährleistungsrechtliche Ansprüche - nicht der Verjährung unterliegen. Die Abhilfemaßnahmen sind dem Verbraucher ferner proaktiv anzubieten, der rückrufverantwortliche Wirtschaftsakteur darf nicht passiv auf die Inanspruchnahme durch den Verbraucher warten. Auch in das System des Deliktsrechts fügt sich das neugeschaffene Recht auf Abhilfe nicht ein. Denn die Abhilfemaßnahmen gehen in ihrer Reichweite deutlich über die deliktische Produzentenhaftung hinaus, die sich auf den Schutz des Integritätsinteresses beschränkt. Es bleibt abzuwarten, in welcher Weise das dem deutschen Zivilrecht systemfremde Recht auf Abhilfe neben dem kaufrechtlichen Gewährleistungs- und Deliktsrecht praktisch zur Anwendung gebracht wird.
Praxisfolgen
Das Recht auf Abhilfe wird die Kosten- und Prozessrisiken für Rückrufverantwortliche immens erhöhen. Es ist aufgrund der fehlenden zeitlichen Begrenzung des Rechts auf Abhilfe in einem deutlich weiteren Ausmaß mit der Inanspruchnahme von Rückrufverantwortlichen durch Verbraucher zu rechnen. Nach Verjährung seiner Sachmängelgewährleistungsansprüche kann sich der Verbraucher weiter an den Rückrufverantwortlichen halten. In unverjährter Zeit seiner Sachmängelgewährleistungsansprüche wird der Verbraucher nach Opportunitätsgesichtspunkten entscheiden können, ob er sich an seinen Vertragspartner oder (den häufig - außerhalb des Direktvertriebs - nicht identischen) Rückrufverantwortlichen hält. Darüber hinaus ist das Recht auf Abhilfe verbandsklagefähig, sodass betroffene Wirtschaftsakteure zukünftig vermehrt gebündelter Inanspruchnahme ausgesetzt sein werden.9
Die Produkthaftungsrichtlinie (EU) 2024/2853
Auch die neue Produkthaftungsrichtlinie hebt den europäischen Rechtsrahmen für Produkthaftung in das digitale Zeitalter. Der europäische Gesetzgeber erweitert vor diesem Hintergrund sowohl den Begriff des Produkts als auch des Produktfehlers. Sprengkraft bergen die Regelungen zur Offenlegung von Beweismitteln und zur Beweislastverteilung.
Ausweitung des Haftungsregimes
Die Produkthaftungsrichtlinie erweitert die Definition des Begriffs „Produkt“ auf digitale Fertigungsdateien, Rohmaterialien, Elektrizität und Software.10 Erfasst werden sollen sowohl Standard-Software als auch KI-Systeme mit Ausnahme von nicht-kommerzieller und Open-Source-Software.11 Das Prinzip der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung wird damit von materiellen Gütern auf digitale Produkte erstreckt. Indem die Produkthaftungsrichtlinie gleichzeitig auch weitere Haftungssubjekte in den Geltungsbereich des Gesetzes einbezieht (Bevollmächtigte des Herstellers, Fulfilment-Dienstleister, Anbieter einer Online-Plattform), steigen die Risiken für Wirtschaftsakteure auf allen Ebenen eines mehrstufigen Wertschöpfungsprozesses. Zudem wird als Hersteller ebenfalls derjenige gelten, der ein Produkt außerhalb der Kontrolle des Herstellers wesentlich verändert und es anschließend auf dem Markt bereitstellt oder in Betrieb nimmt.12 Für untere Ebenen einer Lieferkette erhöht sich die Gefahr, wie der Hersteller des Gesamtprodukts haftbar gemacht zu werden.13 Vergleichbar mit den Erweiterungen der Kriterien für die Bewertung der Produktsicherheit im Rahmen der Produktsicherheitsverordnung greift der europäische Gesetzgeber auch im Rahmen der Produkthaftungsrichtlinie zu einer erheblichen Ausdehnung der Kriterien für die Feststellung der Fehlerhaftigkeit eines Produkts. Aufgrund des stetig voranschreitenden technischen Fortschritts und der digitalen Vernetzung von Produkten sollen nunmehr auch die Auswirkungen der Fähigkeit eines Produkts zum Lernen und zur Funktionserweiterung nach seinem Inverkehrbringen oder seiner Inbetriebnahme sowie Produktsicherheitsanforderungen, insbesondere der Cybersicherheit, bei Beurteilung des Vorliegens eines Produktfehlers Berücksichtigung finden.14 Unternehmen müssen folglich sicherstellen, dass externe Eingriffe oder die technische Fortentwicklung eines Produkts, beispielsweise durch Software-Aktualisierungen, nicht die Produktsicherheit beeinträchtigen. Denn ein Wirtschaftsakteur hat nach dem Inverkehrbringen oder der Inbetriebnahme des Produkts so lange weiter für die Fehlerhaftigkeit eines Produkts einzustehen, wie dieses etwa durch Software-Updates bei digitalen Technologien der Kontrolle des Herstellers unterliegt.15
Offenlegung von Beweismitteln
Mit der Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie in das nationale Recht wird in das deutsche Produkthaftungsrecht ein systemfremder Herausgabeanspruch eingeführt werden.16 Der Herausgabeanspruch soll den Geschädigten in die Lage versetzen, vor einem nationalen Gericht Zugang zu relevanten, dem Hersteller zur Verfügung stehenden Beweismitteln erhalten, um damit seinen produkthaftungsrechtlichen Anspruch nachweisen zu können. Die Voraussetzungen des prozessualen Anspruchs auf Offenlegung von Beweismitteln (disclosure of evidence) werden dabei denkbar niedrig angesetzt: Die Plausibilität des Schadensersatzanspruchs muss ausreichend dargetan sein. Das nationale Gericht wird die Offenlegung der seitens des Geschädigten bezeichneten Beweismittel anordnen, sofern es die geforderte Offenlegung von Beweismitteln für erforderlich und verhältnismäßig erachtet. Bei der Entscheidung über die Anordnung der Offenlegung soll das Gericht insbesondere den Schutz von vertraulichen Informationen und Geschäftsgeheimnissen berücksichtigen. Nichtsdestotrotz birgt die Offenlegungspflicht ein erhebliches Risiko der „Ausleuchtung“ von Unternehmensinterna von Herstellern, denn den Gerichten wird durch unbestimmte Rechtsbegriffe wie etwa der Erforderlichkeit und Unverhältnismäßigkeit ein erheblicher Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Reichweite der Offenlegungspflicht zugestanden.
Praxishinweis:
In der künftigen Verteidigung gegen ausufernde Offenlegungsverlangen dürfte damit ein Fokus auf der deutlichen Herausarbeitung der Bedeutung und des Gewichts des angeforderten Beweismittels als vertrauliche Information bzw. Geschäftsgeheimnis für das betroffene Unternehmen zu legen sein. Besondere Vorsicht ist insgesamt walten zu lassen in der internen Begleitung und Dokumentation eines potenziellen Produkthaftungsfalls. Denn durch die weitreichende Offenlegungspflicht entzieht der europäische Gesetzgeber den betroffenen Unternehmen die Entscheidungsdiskretion über sein Vorgehen im Rahmen der Produktverteidigung. Der Inhalt und die Qualität interner Dokumente, die auf gerichtliche Anordnung verpflichtend vorzulegen sind, dürfte über die Aussichten auf eine erfolgreiche Produktverteidigung entscheiden.
Beweislastverteilung
Eine „Flucht vor der Offenlegung“ ist ausgeschlossen, denn eine solche ginge mit erheblichen prozessualen Nachteilen einher, die in einer Prozessniederlage münden können. Ein Unterlassen der Offenlegung von Beweismitteln wird sanktioniert mit einer rechtlichen Vermutung für die Fehlerhaftigkeit des Produkts. Darüber hinaus enthält die Produkthaftungsrichtlinie weitere Vermutungsregelungen für das Vorliegen eines Produktfehlers sowie für die Kausalität zwischen dem Produktfehler und dem Schaden. Somit droht die allgemeine zivilprozessuale Beweislastregel, dass der Kläger die (für ihn günstigen) anspruchsbegründenden Tatsachen beweisen muss, im Bereich der Produkthaftung zu erodieren. Zu befürchten ist eine de facto Beweislastumkehr zum Nachteil von Wirtschaftsakteuren. Eine Unaufklärbarkeit des Sachverhalts („non liquet“) dürfte sich künftig in einem Produkthaftungsprozess häufiger als bisher zum Nachteil der Beklagtenseite auswirken.
Weitere Verschärfungen der Produkthaftung
Mit der Produkthaftungsrichtlinie kündigt sich auch der Wegfall haftungsbegrenzender Regelungen an. Die aktuell geltenden Selbstbehalte für Sachschäden gemäß § 11 ProdHaftG (in Höhe von 500 €) sowie die Haftungshöchstgrenze für Personenschäden gemäß § 10 ProdHaftG (in Deutschland in Höhe von 85 Mio. €) entfallen künftig ersatzlos. Darüber hinaus wird die Ausschlussfrist für produkthaftungsrechtliche Ansprüche (vgl. § 13 ProdHaftG) von 10 auf 25 Jahre verlängert, wenn eine geschädigte Person aufgrund der Latenz ihrer Körperverletzung nicht in der Lage war, innerhalb von 10 Jahren ein Verfahren gegen einen Wirtschaftsakteur einzuleiten.
Praxisfolgen
Durch die Produkthaftungsrichtlinie werden sich die Vorzeichen für Produkthaftungsstreitigkeiten vor deutschen Gerichten grundlegend verändern. Durch die Erweiterung der Haftungssubjekte wird eine deutlich größere Anzahl an Wirtschaftsakteuren Product-Liability-Litigation ausgesetzt sein. Aufgrund der Offenlegungspflichten und der Beweislastregelungen der Produkthaftungsrichtlinie wird sich zudem der Verteidigungsaufwand, insbesondere zum Zwecke des Schutzes von vertraulichen Informationen und Geschäftsgeheimnissen, deutlich erhöhen.
[1] Art 6 Abs. 1 lit. g VO (EU) 2023/988.
[2] Erwägungsgrund 25 VO (EU) 2023/988.
[3] Art 6 Abs. 1 lit. b, lit. c, Erwägungsgrund 24 VO (EU) 2023/988.
[4] Art 22 VO (EU) 2023/988.
[5] Art 20 VO (EU) 2023/988.
[6] Art. 9 Abs. 8 und 9, Art. 10 Abs. 2 lit. c, Art. 11 Abs. 2 und 8, Art. 12 Abs. 4, Art. 20 und Art. 22 VO (EU) 2023/988.
[7] Art 34 Abs. 3 VO (EU) 2023/988.
[8] Erwägungsgrund 88 VO (EU) 2023/988.
[9] Art 39 VO (EU) 2023/988.
[10] Art. 4 Nr. 1 RL (EU) 2024/2853.
[11] Art. 2 Nr. 2 RL (EU) 2024/2853.
[12] Art. 8 Abs. 2 RL (EU) 2024/2853.
[13] Vgl. Art. 12 Abs. 1 RL (EU) 2024/2853.
[14] Art. 7 Abs. 2 lit. c, lit. f RL (EU) 2024/2853.
[15] Vgl. Art. 11 Abs. 2, Erwägungsgrund 50 RL (EU) 2024/2853.
[16] Art. 9 RL (EU) 2024/2853.
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