Kartellrecht

Wichtige Entwicklungen im deutschen Kartellrecht im 2. Halbjahr 2022

Getreu dem Motto nach der Novelle ist vor der Novelle bildeten die Änderungen im Rahmen der 11. GWB-Novelle einen Schwerpunkt der kartellrechtlichen Diskussion im Berichtszeitraum, wobei die 12. GWB-Novelle bereits ihre Schatten vorauswirft. Daneben gab es u.a. Bewegung in den Verfahren nach § 19a GWB, eine gewisse Flexibilität des Amtes im Umgang mit Wettbewerberkooperationen zur Adressierung der Gasmangellage, eine historisch geringe Bußgeldsumme im Jahr 2022 und eine weitere höchstrichterliche Konturierung des Kartellschadensersatzrechts.

I. 11. GWB-Novelle

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat im Berichtszeitraum den Entwurf eines „Wettbewerbsdurchsetzungsgesetzes“ vorgelegt, das als 11. GWB-Novelle kommen soll. Der Entwurf sieht insbesondere neue Befugnisse vor, mit denen das Bundeskartellamt (BKartA) im Anschluss an eine Sektoruntersuchung außerhalb des Kartellverbots oder der Missbrauchsaufsicht Störungen des Wettbewerbs abstellen kann. Darüber hinaus soll die Abschöpfung von Vorteilen aus Kartellrechtsverstößen für die Behörde deutlich erleichtert werden.

1. „Sektoruntersuchung plus“

In Anlehnung an das „Market Study Tool“ der britischen Wettbewerbsbehörde CMA soll das BKartA zukünftig unmittelbar Abhilfemaßnahmen anordnen dürfen, wenn es im Zuge einer Sektoruntersuchung eine „erhebliche, andauernde oder wiederholte Störung des Wettbewerbs“ festgestellt hat. Der Nachweis eines individuellen Verstoßes wird nicht mehr erforderlich sein. Die beispielhaft in § 32 f GWB-E genannten verhaltensbezogenen und strukturellen Eingriffsmöglichkeiten unterliegen dem Verhältnismäßigkeitsgebot und reichen bis zur eigentumsrechtlichen Entflechtung als ultima ratio. Die weitreichenden neuartigen Befugnisse und unbestimmten Rechtsbegriffe lösen zu Recht große Sorge angesichts der Machtfülle des Amtes aus. Präsident Mundt hat indessen einen verantwortlichen und umsichtigen Umgang zugesagt.

2. Vorteilsabschöpfung

Das bereits 1999 eingeführte Instrument der Vorteilsabschöpfung in Bußgeldverfahren wird aufgrund der hohen Nachweishürden in der Praxis nicht genutzt. Das Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz soll dies nun ändern: Es führt eine gesetzliche Vermutung ein, wonach ein Unternehmen mit einem nachgewiesenen Kartellrechtsverstoß einen Vorteil in Höhe von 1 % seiner Inlandsumsätze mit dem betroffenen Produkt erzielt hat. Gleichzeitig werden an die Widerlegung dieser Vermutung hohe Anforderungen gestellt. Das betroffene Unternehmen muss nachweisen, weltweit im Abschöpfungszeitraum insgesamt, also auch mit anderen Produkten, keinen Gewinn in dieser Höhe erwirtschaftet zu haben. Es darf allerdings bezweifelt werden, ob dieser Nachweis in der Praxis überhaupt gelingen kann. Schließlich ist eine Streichung des Verschuldenserfordernisses vorgesehen. Es wird sich zeigen, ob das BKartA entsprechend seiner gegenwärtigen Ankündigungen nur maßvoll mit der erleichterten Vorteilsabschöpfung umgehen wird oder ob die Vorteilsabschöpfung künftig gemeinsam mit dem Bußgeld und der privaten Schadensersatzdurchsetzung regelmäßig einen Sanktionsdreiklang bilden wird.

3. Zeitplan

Die 11. GWB-Novelle unterliegt einem ehrgeizigen Zeitplan: nach Vorliegen eines Regierungsentwurfs hofft das BMWK noch im Frühjahr in die parlamentarische Beratung einzutreten. Daneben befindet sich die 12. GWB-Novelle bereits in Vorbereitung. Ihr Schwerpunkt soll auf neuen Befugnissen des BKartA im Bereich Verbraucherschutz sowie der Stärkung privater Schadensersatzklagen liegen und damit Pläne aus dem Koalitionsvertrag umsetzen.

II. Fusionskontrolle

1. Bußgeldentscheidungen in der Baubranche

Die Zahl der beim BKartA angemeldeten Zusammenschlüsse war im Jahr 2022 mit rund 800 erneut rückläufig. Die Ursache dieses rund 20 %-igen Rückgangs dürfte neben der Anhebung der Aufgreifschwellen im Jahr 2021 auch in der gesamtwirtschaftlichen, von Krisen geprägten Entwicklung des vergangenen Jahres liegen.

Acht Vorhaben wurden 2022 einer vertieften Prüfung unterzogen: Ein Zusammenschluss wurde untersagt (ACO/BIRCO, siehe Newsletter 1/2022) und zwei weitere, die Übernahme von OMV-Tankstellen durch EG Group (Esso) sowie die Verbindung von Rheinenergie und Westenergie (E.ON), wurden nur unter Auflagen freigegeben. Zwei Vorhaben wurden aufgegeben und drei Hauptprüfverfahren laufen noch.

1. BKartA-Verfahren

Im Berichtszeitraum gab die China International Marine Containers (CIMC) im Hauptprüfverfahren das Vorhaben auf, die dänische Maersk Container Industry (MCI) zu erwerben. Beide Unternehmen bieten Schiffscontainer an, wobei MCI auf die Herstellung von Kühlcontainern spezialisiert ist. Auf dem Markt für Kühlcontainerboxen wäre es durch den Zusammenschluss zu einem gemeinsamen weltweiten Anteil von 60-70 % gekommen. Die beiden einzigen verbleibenden Anbieter, beides chinesische Unternehmen, wären nach Ansicht des Amtes nicht in der Lage gewesen, die wettbewerblichen Verhaltensspielräume der neuen Einheit zu kontrollieren. Ein verbleibender Wettbewerber gehört zur COSCO-Gruppe, zu der CIMC bis vor kurzem gesellschaftsrechtliche und personelle Verbinungen hatte, so dass das BKartA bezweifelte, ob insoweit wirksamer Wettbewerb entstehen würde. Der andere Wettbewerber verfügte lediglich über eine kleine Marktposition und geringe Produktionskapazitäten.

Im September genehmigte das BKartA einen strategischen Zusammenschluss zwischen Rheinenergie und der E.ON-Tochter
Westenergie nur unter der aufschiebenden Bedingung, dass Rheinenergie einen wesentlichen Teil ihres Heizstromgeschäfts im Raum Köln an einen einzigen Erwerber veräußert. Nur so war nach Ansicht des Amts eine Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung der Rheinenergie zu verhindern. Bedenken bestanden auch hinsichtlich der starken Marktstellung der Beteiligten in bestimmten Lokalmärkten für den Betrieb von E-Ladesäulen für Autos, insoweit prognostizierte das BKartA jedoch eine dynamische Marktentwicklung. Zudem griff es auf die selten genutzte Abwägungsklausel des § 36 Abs. 1 Nr. 1 GWB zurück, nach der eine Fusion nicht zu untersagen ist, soweit durch sie Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen entstehen, welche die Behinderung des Wettbewerbs überwiegen.

Im Berichtszeitraum gab das BKartA überdies die Erhöhung der Beteiligung von Kühne an Lufthansa auf 15,01 % in der ersten Phase frei. Fusionskontrollpflichtig war der Erwerb, da Kühne trotz der moderaten Beteiligungshöhe einen wettbewerblich erheblichen Einfluss erwarb. Das Amt nimmt an, dass Kühne aufgrund der kontinuierlich geringen Hauptversammlungspräsenz der Lufthansa faktisch eine Sperrminorität zukommt. In materieller Hinsicht konzentrierte sich die Prüfung auf vertikale Aspekte. Obgleich die Kühne-Tochter Kühne+Nagel einer der größten Logistikanbieter und ein bedeutender Nachfrager nach Luftfrachttransporten ist, kam das Amt zu dem Schluss, dass den Wettberbern hinreichend Ausweichalternativen zur Verfügung stehen, zumal die pandemiebedingten Kapazitätsengpässe in der Luftfracht weitgehend überwunden seien.

Schließlich genehmigte das BKartA in der zweiten Jahreshälfte 2022 zwei Zusammenschlüsse, welche die Rückwärtsintegration großer LEH-Unternehmen betrafen. In beiden Fällen ging es um den Erwerb eines bedeutenden Herstellers von Handelsmarken durch einen Discounter. Im Oktober erhielt die Schwarz-Gruppe (u. a. Lidl, Kaufland) grünes Licht zur Übernahme der Erfurter Teigwaren. Im Dezember gab das Amt den Erwerb der Altmühltaler Mineralbrunnen durch ALDI frei. Zwar sah es in den entschiedenen Fällen jeweils hinreichende Alternativen auf den betroffenen Märkten, kündigte jedoch an, die wettbewerblichen Auswirkungen der vertikalen Integration von Herstellern im LEH im Blick zu behalten.

2. OLG Düsseldorf zu Meta/Kustomer

Im Dezember 2021 hatte das BKartA die Anmeldepflicht der Übernahme von Kustomer durch Meta nach der Transaktionswertschwelle festgestellt (siehe Newsletter 2/2021) und das daraufhin angemeldete Vorhaben am 11. Februar 2022 formlos in der ersten Phase freigegeben (siehe Newsletter 1/2022). Über die von Meta sowohl gegen den Feststellungsbeschluss aus Dezember 2021 als auch gegen den Kostenbeschluss aus März 2022 eingelegte Beschwerde hat das OLG Düsseldorf am 23. November 2022 entschieden.
Zwar scheiterte die Beschwerde gegen den Feststellungsbeschluss wegen der zwischenzeitlich erfolgten Freigabe am fehlenden Rechtsschutzbedürfnis. Auch für ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse sah das OLG mangels Wiederholungsgefahr keinen Raum.
Die Beschwerde gegen den Kostenbeschluss war jedoch erfolgreich. Nach Ansicht des OLG Düsseldorf ging das Amt fälschlicherweise von einer Anmeldepflicht aus. Es fehle jedoch an der erforderlichen erheblichen Inlandstätigkeit. Soweit Kustomer im Ausland Datensätze deutscher Endkunden verarbeite, liege eine solche nicht vor. Relevant sei lediglich die Erbringung von Kundenmanagement-Dienstleistungen gegenüber in Deutschland ansässigen Unternehmenskunden, da an deren Standort der Wettbewerb stattfinde. Diese habe jedoch keinen erheblichen Umfang.

Die vom OLG Düsseldorf gezogene Parallele zwischen örtlicher Zurechnung der Tätigkeit und der Umsatzzurechnung überzeugt. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der erheblichen Inlandstätigkeit für die Anwendung des § 35 Abs. 1a GWB hat das OLG die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen.

III. Missbrauchsaufsicht

1. § 19a GWB (Amazon)

Wie bereits berichtet (Newsletter 1/2022), stellte das BKartA gegenüber Amazon eine überragende marktübergreifende Bedeutung (ÜmüB) fest. Am 5. Juli / 26. Oktober 2022 wurden der Fallbericht und die Langversion der Verfügung veröffentlicht. Gegen die Entscheidung hat Amazon – im Gegensatz zu den anderen von § 19a GWB bis dato betroffenen Digitalkonzernen Alphabet/Google, Apple und Facebook/Meta – Beschwerde beim BGH eingelegt. Die erstmalige Beschäftigung des höchsten Zivilgerichts mit den Fragen rund um die ÜmüB bleibt mit Spannung abzuwarten. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das BKartA Mitte November 2022 verlautbarte, dass es die beiden gegen Amazon laufenden Missbrauchsverfahren (Preiskontrollmechanismen und Benachteiligungen von Marktplatzhändlern) nunmehr auch unter Berücksichtigung der Inhalte des § 19a GWB führen werde.

2. § 19a GWB (Facebook/Meta)

Einen ersten Praxiserfolg mit dieser Norm im Nachgang zu den reinen Anwendbarkeitsverfügungen verbuchte das BKartA in dem Verfahren rund um die Verwendung der von Facebook/Meta vermarkteten Virtual-Reality-Brille Meta Quest (früher: Oculus). Das Unternehmen beseitigte das ursprüngliche Erfordernis, wonach Benutzer der Brille ein Konto auf der Social-Media-Plattform Facebook benötigten. So wurde insbesondere das Risiko begrenzt, dass Facebook/Meta seine dominierende Stellung auf den Märkten Virtual Reality und Social Media weiter ausbaut. Das Amt betonte in seiner Pressemitteilung vom 23. November 2022, dass das Verfahren gegen Facebook/Meta indes noch nicht abgeschlossen sei, da das BKartA u. a. die Zusammenführung und Verarbeitung von Nutzerdaten aus den verschiedenen Facebook/Meta-Diensten weiter begleiten wolle.

3. § 19a GWB (Google/Alphabet)

Kurz vor Weihnachten konnte das BKartA zudem sein Verfahren gegen Google/Alphabet im Hinblick auf das Online-Nachrichtenangebot „Google News Showcase“ abschließen. Dieses betraf das Nachrichtenangebot des Unternehmens, welches Verlegern im von Google gesetzten Rahmen Möglichkeiten zur Darstellung von Verlagsinhalten gibt. Durch verschiedene Maßnahmen zugunsten der Verlage (insbesondere keine Integration in die allgemeine Suchmaschine sowie Loskopplung der Showcase-Teilnahme von den dort erscheinenden Suchergebnisrankings) konnte Google die wettbewerblichen Bedenken letztlich ausräumen und eine Verfügung des Amts verhindern. Das Verfahren wurde wiederum unter Anwendung des § 19a GWB geführt. Dies unterstreicht die hervorgehobene praktische Bedeutung der Vorschrift jedenfalls für große Digitalkonzerne.

4. Missbrauchsverfahren gegen Lufthansa

Im Anschluss an das Abmahnschreiben aus Februar 2022 (Newsletter 1/2022) entschied das BKartA am 29. August 2022, dass Lufthansa auch in Zukunft verpflichtet bleibt, der Konkurrentin Condor Zugang zu Lufthansa-Zubringerflügen für Condor-Langstreckenpassagiere zu gewähren. Das Amt bestätigte seine Auffassung, dass Lufthansa als einzige Airline mit den wichtigen deutschen Drehkreuzen Frankfurt, München und Düsseldorf ein umfassendes und dichtes Zubringernetz mit Flügen aus Europa anbieten kann. Würde Lufthansa Condor den Zugriff auf Zubringerflüge verweigern, wäre Condors Fähigkeit deutlich beschränkt, auf dem Markt der Langstreckenflüge relevanten Wettbewerbsdruck zu entfalten. Ersteres hat das Amt unter Verweis auf die Missbrauchsvorschriften verhindert. Ob die im November veröffentlichte Entscheidung Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Soweit ersichtlich hat Lufthansa Rechtsmittel eingelegt.

5. Kein Preishöhenmissbrauch durch Coca-Cola gegenüber Edeka

Das LG Hamburg wies im September einen von einer Edeka-Gesellschaft im einstweiligen Verfügungsverfahren geltend gemachten Weiterbelieferungsanspruch gegen Coca-Cola zurück. Der Fall zeigt eindrücklich, dass die Zivilgerichte auch bei der Geltendmachung von Belieferungsansprüchen aus §§ 19, 20 GWB durchaus strenge Nachweisanforderungen stellen (vgl. dazu auch Newsletter 1/2021).

Das Handelsunternehmen hatte behauptet, Coca-Cola habe seine marktbeherrschende Stellung durch die Forderung einer unangemessenen Preiserhöhung missbraucht, die Edeka nicht bereit war zu akzeptieren. Das Gericht bejahte zwar eine marktbeherrschende Stellung von Coca-Cola auf dem Markt für nichtalkoholische kohlesäurehaltige Getränke. Es sah aber weder einen Verfügungsanspruch auf Weiterbelieferung zu den bisherigen Konditionen noch einen Verfügungsgrund glaubhaft gemacht.
Zum einen bezog sich der geltend gemachte Weiterbelieferungsanspruch – ohne dass die Antragstellerin diesbezüglich hinreichend differenzierte – auch auf Produkte außerhalb des beherrschten Marktes. Zum anderen hatte die Antragstellerin nach Auffassung des LG Hamburg auch keinen geeigneten Vergleichsmaßstab zur Feststellung des wettbewerbsanalogen Preises vorgetragen. Den Vortrag zu den Preiserhöhungen eines Konkurrenten (mutmaßlich Pepsi) hielt das LG insofern schon deshalb nicht für ausreichend, weil auch dieser Vortrag sich teilweise auf Produkte außerhalb des beherrschten Marktes bezog. Schließlich sah das LG auch einen Verfügungsgrund nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Eine Verpflichtung zur Belieferung nehme die Hauptsache vorweg. Dagegen könne die Antragstellerin die geforderten Konditionen zunächst akzeptieren und habe dann die rechtliche Möglichkeit, einen Preishöhenmissbrauch geltend zu machen und einen überhöhten Preis von der Antragsgegnerin zurückzuverlangen.

IV. Kartellverbot

Im Bereich der Kartellverfolgung verhängte das BKartA im Jahr 2022 rund 24 Mio. Euro Bußgeld gegen insgesamt 20 Unternehmen und sieben natürliche Personen, u. a. in den Branchen Brückendehnfugen und Industriebau (siehe Newsletter 1/2022). Die Gesamtbußgeldhöhe ist angesichts der Zahlen vergangener Jahre, etwa 848 Mio. Euro (2019) oder 358 Mio. Euro (2020), bemerkenswert gering. Ein Grund hierfür dürfte neben dem Rückgang der Kronzeugenanträge sein, dass das Amt angesichts pandemiebedingter Auswirkungen in den Jahren 2020 und 2021 die Kartellverfolgung nicht mit der sonst gewohnten Intensität betrieb.

Im Jahr 2022 stellten Unternehmen insgesamt 13 Kronzeugenanträge. Das BKartA führte zwölf eigenständige Durchsuchungen und sechs weitere im Wege der Amtshilfe durch. Dies ist die höchste Zahl seit Jahren, wobei eine weitere Intensivierung der Verfolgungsaktivitäten des BKartA in 2023 zu erwarten ist.

1. Energie- und Versorgungslage im kartellrechtlichen Fokus

Das in dem Berichtszeitraum vorherrschende Thema rund um tatsächliche und potentielle Energie- und Versorgungsengpässe beschäftigte auch das BKartA.

Ende August 2022 äußerte Präsident Mundt, dass Unternehmen wegen der Sondersituation der Gasmangellage Hilfestellungen des Amts bei der kartellrechtlichen Bewertung von insofern bedingten Wettbewerberkooperationen erwarten können.
Mit Pressemitteilung vom 6. September 2022 kündigte das Amt an, eine geplante Kooperation der deutschen Zuckerhersteller hinsichtlich der gemeinsamen Zuckerrübenverarbeitung im Falle ausbleibender Gaslieferungen nicht zum Gegenstand eines Kartellverfahrens zu machen. Dies wurde insbesondere damit begründet, dass die dem BKartA aus dem Zuckerkartellverfahren (2014) bekannten Unternehmen nur eine einmalige, zeitlich befristete Kooperation in Aussicht genommen haben.

Am 15. September 2022 gab das Amt grünes Licht für die derzeitige Ausgestaltung einer bis Frühjahr 2024 befristeten Zusammenarbeit zwischen den Energieunternehmen Uniper, RWE und EnBW/VNG im Hinblick auf den Bau und Betrieb von Flüssiggasterminals in Norddeutschland. Laut Pressemitteilung wurden die damit korrespondierenden Vorteile für die Verbraucher höher gewichtet als mögliche wettbewerbliche Nachteile.

Ende November 2022 veröffentlichte das BKartA schließlich den Zwischenbericht zur Sektoruntersuchung der Raffinerie- und Großhandelsebene für Kraftstoffe. Anlass für diese war die seit Februar 2022 anhaltende Entkopplung der Tankstellenpreise von der Rohölpreisentwicklung. Das Amt hat nach eingehender Analyse der produktions- und kostenrelevanten Rahmenbedingungen sowie marktstufenübergreifenden Preisbildungsmechanismen keine Anzeichen für Preisabsprachen der Mineralölkonzerne identifizieren können. Es kündigte an, seine Ermittlungen bis zum Abschluss der Sektoruntersuchung insbesondere noch auf die Wettbewerbsverhältnisse beim Absatz von Kraftstoffen auf Großhandelsebene auszudehnen.

2. Praxis des OLG Düsseldorf

Mit Urteil vom 11. November 2022 belegte der 2. Kartellsenat des OLG Düsseldorf ein deutsches Tochterunternehmen des französischen Baukonzerns Bouygues mit einer Geldbuße von 21 Mio. Euro. Zugrunde lag das Kartellverfahren des BKartA im Bereich Technische Gebäudeausrüstung (TGA), im Zuge dessen elf Unternehmen vorgeworfen wurde, bei der Vergabe von großvolumigen TGA-Aufträgen kartellrechtswidrige Absprachen getroffen zu haben. Dem einspruchsführenden Unternehmen wurde ursprünglich eine Buße von knapp 48 Millionen Euro auferlegt. Die Bußgeldreduktion erklärt sich damit, dass das OLG für vier der sieben vorgeworfenen Großprojekte den Eintritt einer Verfolgungsverjährung annahm.

Der 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf verurteilte die Drogeriekette Rossmann am 14. November 2022 zu einer Geldbuße von 20 Mio. Euro im Nachgang zum sog. „Kaffeekartell“. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, sich mit einem Kaffeeröster über die Ladenverkaufspreise von Filterkaffee verständigt zu haben (verbotene vertikale Preisbindung). Ausgangspunkt für das Verfahren waren Ermittlungen des BKartA im Jahr 2010, die 2015 in einem Bußgeldbescheid in Höhe von rund fünf Millionen Euro mündeten. Nach dem Einspruch von Rossmann versechsfachte das OLG Düsseldorf Anfang 2018 die Geldbuße, wogegen sich das Unternehmen erfolgreich vor dem BGH wehrte. Nach weiteren prozessrechtlichen Volten bildet das in den Berichtszeitraum fallende Urteil nunmehr das Ende der dritten (!) Hauptverhandlung in der gleichen Sache. Allerdings können die Parteien wiederum Rechtsbeschwerde zum BGH einlegen.
Ein weiteres, bis dato nicht abgeschlossenes Verhandlungsepos bildet das Carlsberg-Verfahren. Dieses wird seit dem 8. November 2022 vor dem 6. Kartellsenat neu aufgerollt. Dem vorausgegangen war ein Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts aus dem Jahr 2014, der im Frühjahr 2019 durch das OLG Düsseldorf aufgehoben wurde und nach einem Aufhebungsbeschluss des BGH aus dem Sommer 2020 „wiederauflebte“. Eine zwischenzeitlich begonnene Hauptverhandlung musste wegen Erkrankung eines Senatsmitglieds abgebrochen werden. 

3. Schlussakkord zur Amtshaftungsklage

Im September 2021 hatte das OLG Köln die gegen das BKartA gerichtete Amtshaftungsklage des Agrarhandelskonzern BayWa auf Ersatz der geleisteten Geldbuße aus dem Pflanzenschutzmittelkartell von knapp 70 Mio. Euro rechtskräftig abgewiesen (siehe hierzu Newsletter 2/2020 und 2/2021). Hinsichtlich der entstandenen Anwaltskosten hatte BayWa die Entscheidung des OLG Köln per Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BGH angegriffen. Der zuständige Senat hat diese Beschwerde ohne Begründung in der Sache mit Beschluss vom 30. Juni 2022 zurückgewiesen. Mit dem nunmehr endgültigen Abschluss des Verfahrens bleibt indes offen, wie das höchste deutsche Zivilgericht rechtsstaatlich umstrittene Ermittlungsmethoden des BKartA materiell einschätzt.

V. Kartellschadensersatz

1. BGH zum Schadensersatz nach kartellrechtswidrigem Informationsaustausch

Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH streitet zugunsten kartellbetroffener Abnehmer von Preis- und Quotenkartellen ein Erfahrungssatz (im Sinne einer tatsächlichen Vermutung), dass die kartellierten Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die Wettbewerbsbeschränkung gebildet hätten. Diesen Erfahrungssatz hat der BGH nunmehr in einem vom Schlecker-Insolvenzverwalter angestrengten Verfahren gegen Teilnehmer des Drogerieartikelkartells explizit auch auf Fälle des reinen Informationsaustauschs ausgedehnt. Danach soll der besagte Erfahrungssatz auch dann greifen, wenn sich der Austausch auf Informationen bezieht, die das aktuelle oder geplante Preissetzungsverhalten gegenüber einem gemeinsamen Abnehmer zum Gegenstand haben.

Mit seinem Urteil revidiert der BGH die Beurteilung des OLG Frankfurt/M. in der Vorinstanz. Dieses war zwar ebenfalls von einer tatsächlichen Vermutung für einen kartellbedingten Preisaufschlag auch bei einem reinen Informationsaustausch ausgegangen. Allerdings maß das OLG dieser tatsächlichen Vermutung einer preissteigernden Wirkung ausdrücklich keine starke Indizwirkung zu. Da nach der Auffassung des BGH aber im Falle des Austausches geheimer Informationen über die individuellen Absichten eines Unternehmens in Bezug auf sein aktuelles oder künftiges Preisverhalten gegenüber dem Abnehmer die Wahrscheinlichkeit besonders groß ist, dass es zu einem Kollusionsergebnis zu Lasten des betroffenen Abnehmers kommt, soll dem Erfahrungssatz abstrakt betrachtet regelmäßig eine starke Indizwirkung zukommen.

In der Konsequenz verwies der BGH die Sache zurück an das OLG Frankfurt/M. Dieses wird nun unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des BGH darüber zu befinden haben, ob bei der weiterhin gebotenen Gesamtwürdigung aller für und gegen einen Schadenseintritt sprechenden Umstände die starke Indizwirkung für einen Schadenseintritt durch andere Indizien entkräftet ist oder ob in der Gesamtschau vom Eintritt eines Schadens auszugehen ist.

2. Anhaltende Diskussion um Abtretungsmodelle

Es ist weiterhin ungeklärt, inwieweit Kartellgeschädigte ihre Ansprüche im Rahmen von Abtretungsmodellen gebündelt geltend machen können. Während verschiedene Kommentatoren das BGH-Urteil i.Sa. financialright – einem Urteil aus Juni 2022 im Zusammenhang mit Schadensersatzansprüchen wegen des Abgasskandals – als Beleg für die grundsätzliche Vereinbarkeit derartiger Modelle mit dem Rechtsanwaltsdienstleistungsgesetz auch bei Kartellschäden anführen, haben im Berichtszeitraum mehrere Landgerichte die Zulässigkeit im kartellrechtlichen Kontext ausdrücklich verneint.

So hat etwa im Zusammenhang mit dem Rundholzkartell nach dem LG Stuttgart (Urteil vom 20. Januar 2022) nun auch das LG Mainz (Urteil vom 7. Oktober 2022) die Vereinbarkeit von Abtretungsmodellen mit dem Rechtsanwaltsdienstleistungsgesetz wegen der besonderen Komplexität von Kartellschadensersatzklagen kategorisch ausgeschlossen. Zum selben Ergebnis kam auch das LG Dortmund in einem Hinweisbeschluss vom 8. Juni 2022. Dabei nimmt es aber eine differenzierende Betrachtung vor. Während das Abtretungsmodell im Fall der vorgelegten Stand-alone-Klage wegen der besonderen Komplexität der Sache nicht von der Inkassoerlaubnis des Klagevehikels gedeckt sei, lässt das Landgericht die Frage der Zulässigkeit bei Follow-on-Klagen ausdrücklich offen.

Ob sich diese kritische Haltung der Instanzgerichte durchsetzen wird, darf angesichts der klägerfreundlichen Rechtsprechung des BGH in vergleichbaren Konstellationen aber zumindest bezweifelt werden.

3. LG Frankfurt zur Verjährung

In einem schon wegen seiner Dauer bemerkenswerten Verfahren hat das Landgericht Frankfurt im August 2022 eine seit 2012 anhängige Klage mehrerer Gesellschaften des DB-Konzerns gegen das Schienenkartell als unbegründet abgewiesen. Das Landgericht folgte dabei der (u.a. von SZA vertretenen) Beklagtenseite und ging von einer Verjährung der geltend gemachten Ansprüche aus.

Das LG Frankfurt kam zu der Überzeugung, dass die Klägerinnen u.a. wegen der auffällig konstanten Lieferquoten schon frühzeitig Kenntnis von den streitgegenständlichen Kartellabsprachen hätten haben müssen. Dabei stützte es sich auch auf die Feststellungen im Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts, die nach Auffassung des Landgerichts insoweit auch zugunsten der Beklagten bindend seien.

Aufgrund dieser grob fahrlässigen Unkenntnis spätestens im Jahr 2007 seien die Ansprüche im Zeitpunkt der Ermittlungen des Bundeskartellamts im Jahr 2011 bereits verjährt gewesen. Eine Verjährungshemmung kam daher für Ansprüche, die bis zum Jahr 2007 entstanden waren, nicht mehr zum Tragen.

Aber auch für Ansprüche, die nach 2007 entstanden waren, ließ das Landgericht den von den Klägerinnen vorgebrachten Hemmungseinwand nicht zu. Es stützte sich insofern auf den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsatz der Schadenseinheit. Danach gilt für alle Ansprüche, deren Entstehung im Zeitpunkt der Kenntnis bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit absehbar war, ein einheitliches Verjährungsregime. Die von der Klägerseite eingelegte Berufung ist nun beim OLG Frankfurt/M. anhängig.

Diese Mandanteninformation beinhaltet lediglich eine unverbindliche Übersicht über das in ihr adressierte Themengebiet. Sie ersetzt keine rechtliche Beratung. Als Ansprechpartner zu dieser Mandanteninformation und zu Ihrer Beratung steht gerne zur Verfügung: 

Dr. Stephanie Birmanns

Entschuldigung.

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