In a Nutshell | 18.02.25
Kollektivrechtsschutz nach dem ASG 2-Urteil des EuGH
In einer neuen Entscheidung hat der EuGH klargestellt, dass das Unionsrecht kollektive Rechtsschutzinstrumente nur dort verlangt, wo ansonsten die Geltendmachung unionsrechtlicher Ansprüche unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 28. Januar 2025 in der Rechtssache „ASG 2“ (Az. C-253/23) hat binnen kürzester Zeit große Aufmerksamkeit erlangt. Es befasst sich mit der Frage, ob das Recht der Mitgliedstaaten die gebündelte Geltendmachung von Kartellschadensersatzklagen im Wege des Sammelklage-Inkassos (“Abtretungsmodell”) verbieten kann oder ob einem solchen Verbot der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz entgegensteht. Der vorliegende Beitrag ordnet das Urteil in das System des kollektiven Rechtsschutzes in Deutschland ein und unterzieht es einer differenzierten Bewertung.
Das Wichtigste in Kürze:
- Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz fordert kollektive Rechtsschutzinstrumente nur dann, wenn andernfalls unionsrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht werden können.
- Die deutschen Einschränkungen des Rechtsdienstleistungsrechts für Sammelklagen verstoßen nicht per se gegen das Unionsrecht.
- Kollektiver Rechtsschutz bewegt sich auch weiterhin im Spannungsfeld zwischen Kläger- und Beklagteninteressen, in dem sich pauschale Lösungen verbieten.
Worum geht es im ASG 2-Urteil des EuGH?
Der EuGH hat sich mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen das nationale Recht Abtretungsmodelle als Instrument des kollektiven Rechtsschutzes zur Durchsetzung von Kartellschadensersatzforderungen erlauben muss. Das Urteil stellt klar, dass der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz dies nur erfordert, wenn es für Kartellbetroffene praktisch keine andere Möglichkeit gibt, ihre behaupteten Ansprüche gerichtlich geltend zu machen.
Einordnung und Hintergrund
Selbst bei großen Gesamtschadensvolumina sehen Geschädigte häufig aus rationalem Desinteresse von der Beschreitung des Klagewegs ab, wenn der bei jedem einzelnen Anspruchsinhaber entstandene Schaden (zu) gering ist. Auf diese Erkenntnis reagierend versuchen der deutsche und der europäische Gesetzgeber seit einigen Jahren, die Hemmschwelle zur Geltendmachung berechtigter, aber niedrigwertiger Ansprüche abzusenken, indem zunehmend Elemente eines kollektiven Rechtsschutzes eingeführt werden.
- Zum bereits 2005 eingeführten Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz sind 2018 die Musterfeststellungsklage und 2023 die Abhilfeklage hinzugekommen. Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Kläger- und Beklagteninteressen, weil die Absenkung der Schwelle zur Anspruchsgeltendmachung nicht nur für begründete Ansprüche die Geltendmachung erleichtert, sondern auch den Anteil unbegründeter Forderungen erhöht, die nun – etwa in der Hoffnung auf einen raschen Vergleich – erhoben werden können.
- Schon vor den genannten Reformen hatte sich die Praxis mit sog. „Sammelklagen“ beholfen, bei denen die mutmaßlich Geschädigten ihre Forderungen an einen Inkassorechtsdienstleister abtreten, der die Forderungen im eigenen Namen und auf eigene Rechnung gegen eine Erfolgsprovision beizutreiben versucht. Regelmäßig stehen spezialisierte Prozessfinanzierer hinter derartigen Abtretungsmodellen.
Dabei kamen in der Vergangenheit zwar immer wieder Zweifel an der Vereinbarkeit derartiger Modelle mit den Vorgaben des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) auf. In der Rechtsprechung zeichnete sich aber eine zunehmende Tendenz ab, die Inkassobefugnis derartiger Anbieter großzügig auszulegen (so etwa in den BGH-Urteilen “AirDeal” oder “financialright”).
Im kartellrechtlichen Kontext geht die Instanzrechtsprechung indes noch häufig von der Unvereinbarkeit von Abtretungsmodellen mit dem RDG aus. Dies gilt jedenfalls bei Klagen, denen keine kartellbehördliche Feststellung eines Kartellverstoßes vorausgegangen war (sog. stand-alone-Klagen). Denn in diesen Konstellationen stellt sich schon die Sachverhaltsermittlung oft so komplex dar, dass sie den typischen Aufgabenbereich eines Inkassodienstleisters übersteigt. Insbesondere das LG Dortmund hielt Abtretungsmodelle aus diesem Grund für die Geltendmachung kartellrechtlicher Schadenersatzansprüche in stand-alone-Konstellationen für unvereinbar mit den Vorgaben des RDG. Im Fall einer Klage des Klagevehikels „ASG 2“ wegen abgetretener Forderungen gegen das Land Nordrhein-Westfalen aus der Beteiligung am sog. Rundholzkartell sah sich das LG deswegen veranlasst, die Unionsrechtskonformität dieser Gesetzesinterpretation vom EuGH überprüfen zu lassen. Nach Auffassung des Gerichts stellte das Sammelklageinkasso die einzige wirksame Möglichkeit für die 32 mutmaßlich geschädigten Sägewerksbetriebe dar, ihre Ansprüche durchzusetzen. Dies führte zu der Frage nach der Vereinbarkeit mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz, welcher es den Mitgliedstaaten verbietet, die Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüche unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Es legte die Frage daher dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Kernaussagen des Urteils
Der EuGH hat im Wesentlichen entschieden:
- Art. 101 AEUV steht einer nationalen Regelung entgegen, die (mutmaßlich) Kartellgeschädigte daran hindert, ihre Schadensersatzansprüche an einen Rechtsdienstleister zur gebündelten Geltendmachung im Rahmen einer stand-alone-Klage abzutreten.
- Dies gilt jedoch nur, soweit das nationale Recht keine andere Möglichkeit zur Bündelung individueller Forderungen dieser Geschädigten vorsieht, die geeignet wäre, eine wirksame Durchsetzung dieser Schadensersatzansprüche zu gewährleisten.
Die Erhebung einer Schadensersatzklage muss sich für diese Geschädigten also ohne die Möglichkeit des Sammelklage-Inkassos in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls als unmöglich oder übermäßig schwierig erweisen.
Erfordernis einer umfassenden Einzelfallprüfung
Für die konkrete Entscheidung war der vom LG Dortmund vorgegebene Befund tragend, dass das nationale Recht keine gleichwertigen Alternativen zur Bündelung von Schadensersatzansprüchen bietet und dass individuelle Klagen praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig wären. Diese entscheidenden Prämissen wurden vom EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nicht überprüft. Insbesondere in den Schlussanträgen des Generalanwalts Szpunar vom 19. Sept. 2024 lassen sich zwischen den Zeilen sogar Zweifel daran ablesen, dass diese Voraussetzung bei den konkret vom Rundholzkartell betroffenen Unternehmen tatsächlich vorlag.
Der EuGH fordert von den nationalen Gerichten dementsprechend eine umfassende Prüfung des Einzelfalls.
- Der EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass sich eine Unmöglichkeit oder übermäßige Erschwerung der Anspruchsdurchsetzung noch nicht allein daraus ergibt, dass Kartellschadensersatzklagen komplex sind und unter Umständen mit hohen Verfahrenskosten einhergehen.
- In die Betrachtung wird ferner einzustellen sein, dass Kartellschadensersatzkläger mehr denn je von weitgehenden Beweiserleichterungen profitieren, insbesondere was das Vorliegen und die Höhe des geltend gemachten Schadens betrifft.
- Mit der nunmehr seit Oktober 2023 bestehenden Möglichkeit einer Abhilfeklage, mit der auch Ansprüche von Verbrauchern und Kleinunternehmern auf Kartellschadensersatz gebündelt geltend gemacht werden können, dürfte die Geltendmachung von Kartellschadensersatzklagen außerdem in vielen Konstellationen noch einmal deutlich erleichtert worden sein.
- In anderen Konstellationen wird zu prüfen sein, ob nicht schon durch das “klassische” zivilprozessuale Instrument der Streitgenossenschaft ausreichende prozessuale Effizienzen gehoben werden können, etwa durch die Vorlage gemeinsamer Parteigutachten.
Interessanterweise zeigt der EuGH sogar noch eine mögliche Einschränkung des Effektivitätsgrundsatzes auf. Selbst wenn sich nach der umfassenden Gesamtwürdigung nämlich herausstellen sollte, dass das Sammelklageinkasso als einzige Möglichkeit zur effektiven Durchsetzung der behaupteten Ansprüche verbleibt, sollen nationale Verbote von Abtretungsmodellen dennoch zulässig sein, wenn diese die Tätigkeit von Inkassodienstleistern im Interesse des Schutzes des Einzelnen regeln. Dies soll unter anderem dann der Fall sein, wenn die Regelung darauf abzielt, die Qualität dieser Dienstleistungen sowie die Objektivität und Verhältnismäßigkeit der von solchen Dienstleistern erhaltenen Vergütungen zu gewährleisten und Interessenkonflikte wie auch missbräuchliche Verfahrenshandlungen zu verhindern.
Folgen für die Praxis
Bei der Bewertung der Zulässigkeit von Abtretungsmodellen lassen sich auch weiterhin keine pauschalen Regeln aufstellen. Der EuGH hält an seiner gefestigten Rechtsprechung fest, dass es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen ist, wie sie ihr nationales Rechtsschutzsystem ausgestalten wollen und in welchem Umfang sie kollektive Rechtsschutzinstrumente zur Verfügung stellen. Außerhalb der Extremkonstellation, dass die Geltendmachung unionsrechtlich gewährter Ansprüche sich „in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls als unmöglich oder übermäßig schwierig erweist, mit der Folge, dass [das] Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verwehrt würde“, sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, kollektive Mechanismen wie das Sammelklage-Inkasso vorzusehen. Ob diese Extremsituation bei der Klage gegen das Rundholzkartell vorlag oder das deutsche Rechtsdienstleistungsgesetz gar grundsätzlich zu einer solchen Extremsituation führt, ließ der EuGH ungeprüft. Jedenfalls Letzteres erscheint äußerst fraglich.
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